März 1925
1. Widmung
„Seelische Empfindsamkeit und hohe Stufe der Entwicklung bedingen höchste Reagenz der Sinnesempfindung auf äußere Eindrücke. Laute, Töne, Harmonien werden von auditiv fühlenden Menschen absorbiert, der Zauberstab der Polyhymnia entrückt den Menschen ins Land Eden. Musik, ein Gottesgeschenk. Nicht allen gegeben, die Zaubermacht zu fühlen, nur wenigen der Zauberstab geschenkt. Verfolgt man gleichzeitig die Musik- und Weltgeschichte, so erkennt man, dass die Musik Charakterisierung, Versinnbildlichung, erhöhter Ausdruck menschlicher Kultur ist. Gestürzt sind wir von der Aufklärung und dem Naturalismus über die Klassik und Romantik in eine Zeit der Nüchternheit, der Aktualität, der Aufregung, der Liebessteigerung, der wirtschaftlichen und sozialen Wirren. Auch die Musik hat solche Entwicklung durchgemacht und muss immer aus ihrer Zeit heraus geboren, beurteilt werden. Unter zeitlichen Missverhältnissen leiden am meisten die Kulturträger der Menschen. Sie suchen geordnete Bahnen, schaffen ein Gebäude, das richtungsgebend sein soll. Wohin der Weg in der Kunst geht, wissen wir genau: nach Ordnung. Der heute tobende Kampf ist eine Anpassung an neue Grundlagen. Er ist wohl schwer und bedarf der Mobilisierung aller Kräfte. Es ist nicht einfach, ebenmachende Wege zu finden, welche die „moderne Musik“ als Kunstrichtung der Zukunft übermitteln. Müssen nicht gerade da Helfer erstehen, welche die Klüfte überbrücken und in klaren Formen eine neue Richtung angeben?“
2. Das Leben
„Hugo Herrmann wurde im Jahre 1896 in Ravensburg geboren. In harten Kindheitsjahren spielt das Schicksal gleichgültig mit dem Knaben, dessen musikalische Begabung schon früh zutage trat […]. „Wenn ich das kompositorische Schaffen lassen könnte, ließe ich es bleiben.“ Doch ich füge seinen Worten hinzu: „Du musst und sollst es tun, sollst Menschengedanken weitertragen, denn dein Werk befruchtet die Kultur.“ 1923 bringt ihm lockende Frucht: Amerika. Die wohlbezahlte Stellung als Organist der größten Kirche in Detroit und Konzertorganist im Detroit-Symphony-Orchesta hätten wohl manch anderen das Vaterland vergessen lassen. Er ist bald enttäuscht. „Ein plötzlicher Drang zur positiven Leistung und schöpferischen Tätigkeit (der amerikanische Pulsschlag hat seine Schöpferkraft gelähmt) in Bodenverwurzeltheit befiel mich.“ 1925 kehrt er zurück und übersiedelt nach Reutlingen. Es scheint, als müsste hier der Komponist die versäumte Zeit nachholen. In den nächsten 5 Jahren entstanden allein 60 Werke, die er bis heute um viele vermehrt hat.“
3. Das Ziel
„Hugo Herrmanns Streben gilt dem Ziel, der Zeitmusik neue Richtung zu geben, Neues zu schaffen. Die Kirchenmusik weist ihn auf die musikalischen Schätze des frühen Mittelalters hin. Überall herrscht einheitlicher Stil. Der gregorianische Choral offenbart die Welt einer längst verklungenen Zeit. Hugo Herrmann nimmt die Harmonie der alten Musik, gürtet sie in das Gewand einer neuen Tonalität, stellt sie auf eine andere Basis. Diese Musik strahlt nunmehr in ihren zwei verschiedenen Richtungen den persönlichen Glauben ihres Schöpfers aus, der mit mittelalterlichen Kunstformen so verbunden ist, wie mit dem Rhythmus einer Jetztkunst. Vor 12 Jahren schreibt am Beethoventage Dr. Fritz Stiegrid: „Die musikalischen Menschen sollen singen, singen in neuen großen Chören. Die Musik zu diesen Chören, sind sie erst entstanden, wird nicht lange auf sich warten lassen. Solche Entwicklung muss kommen.“ Und tatsächlich haben wir heute diese Chormusik. In einem Aufsatz über die Zukunft der absoluten Musik weist Hugo Herrmann auf eine neue Erkenntnis hin: „Die Chormusik zwingt den Musizierenden zum vertiefteren Eigenhören (als wichtige erzieherische Grundlage) und zur produktiven Gemeinschaft (die uns nottut).“ Der Komponist schuf eine ganz und gar neue Form der Chorerziehung und Chormusik, welche den Gemeinschaftsgedanken in den Vordergrund stellt.“
4. Das Werk
„Die große Anzahl Werke des 37-Jährigen sprechen von dem starken Willen eines intuitiv Schaffenden; von der eifernden Energie eines Überzeugten. Eine Vielfältigkeit, wie man sie nur bei Wenigen kennt, zeichnet Hugo Herrmann aus. Lieder, Chöre, Orchesterwerke, Sinfonien, Bläserensemble, Streichquartette, Trios, Sonaten, Klavier- und Orgelwerke, Messen, Opern, Oratorium, Kirchenmusik, große Gesangswerke mit Orchester, Gebrauchs- und Spielmusik, Rundfunk- und selbst Tonfilmmusik sind die Früchte kompositorischen Schaffens. Ein großer Teil der Werke veröffentlicht und bei bedeutenden Verlegern erschienen.
„Heute sind wir ein geschlossenes Ganzes: Dirigent und Sänger ein Herz und eine Seele“
Besonders hervorheben möchte man die beiden Sinfonien, die Chorliedersuiten und die „17 Choretüden“ op. 72. In den letzteren schrieb er die Grundlagen einer neuen Chorerziehung nieder. Seine Oper „Gazellenhorn“ wurde 1929 in Stuttgart und „Vasantasena“ 1931 in Wiesbaden uraufgeführt. Das Oratorium „Jesus und seine Jünger“ ist der religiösen Gemeinschaft gewidmet. Die Musik Hugo Herrmanns ist seltsam erlösend, oft schwer, ergreifend, entblösend, spannend, bald lodernd, bald flüsternd, einheitlich und könnerisch.“
5. Die Persönlichkeit
„Hugo Herrmanns Eigenart ist es, langsam und mit Überlegung einer neuen Sache näher zu kommen. Hat er gute Dualitäten in ihr erblickt, so opfert er sein ganzes Ich, die neue Idee bis zum Erfolg durchzuringen – Tatmensch.
Wissen und Menschenkenntnis, vereint mit pädagogischem Talent, machen ihn zu einem Lehrenden, dessen Widerschein in den Herzen seiner Schüler nicht erlöschen kann. Die Synthese der Tatkraft und Vielfältigkeit liegt in ihm. Hugo Herrmann besitzt die Fähigkeit, den Schüler im Sinne des Lehrers zu erziehen, ohne ihm Schranken aufzulegen. Er fördert des Schülers Arbeit durch Wort und Tat im intuitiven Unterricht – Berufsmensch.
Ehrliche und sachliche Gerechtigkeit gegenüber Andersdenkenden, absolute Offenheit, Zuverlässigkeit und hohe sittliche Kraft machen ihn verehrungswürdig – Charaktermensch.“
6. Nachruf
„Am 7. September starb Hugo Herrmann im Alter von 71 Jahren in Stuttgart. Ein Jahr zuvor, an seinem 70. Geburtstag, sah ihn der Präsident des Schwäbischen Sängerbundes Dr. Franz Weiß so: „Hugo Herrmann ist nicht nur Komponist; er ist auch ein hervorragender Musikerzieher und Organisator. Große Sängerfeste sind nach dem Kriege nach seinen Ideen gestaltet worden. Jede Diskussion mit ihm ist ein Gewinn. Er fesselte durch umfassendes Wissen, und immer neue Gedanken strömen ihm zu. In seinen Werken wird Hugo Herrmann dem Wesen und dem Ursprung der Musik gerecht.“
Ehre seinem Andenken! Er ist in der Chronik unvergessen. In seiner Trauer hält Stadtpfarrer Hermann Breucha fest: „Sollen wir nun trauern, dass solch‘ ein Leben erloschen ist und mit ihm der Glanz, den es ausstrahlte und dessen wir uns alle erfreuten? Ach, zu gut – und wir sollten es uns in dieser Stunde von ihm sagen lassen – „Immerdar enthüllt das Ende sich als strahlender Beginn.“